Die Rechtfertigung im Totengericht (Totenbuch)

Spruch 125 des Totenbuches aus dem Neuen Reich (um 1500 v. Chr.). Osiris thront als Totenrichter, zusammen mit seinen 42 Beisitzern, die im zweiten Teil des Spruches einzeln mit ihren Namen und ihren zugehörigen Orten angerufen werden. Die Kraft des gesprochenen Wortes dient dabei, den Toten “von allen bösen Handlungen zu befreien, die er begangen hat”, die also im Widerspruch zu seinen Beteuerungen stehen und das erstrebte Gleichgewicht der Waage beeinflussen könnten. Zugleich geben die Beteuerungen einen Spiegel dessen, was dem Ägypter des Neuen Reiches als ethische Norm galt.

    Was zu sprechen ist, wenn man zu dieser Halle der
    Vollständigen Wahrheit gelangt. (Zweck:) Den
    Verstorbenen von allen bösen Handlungen zu
    befreien, die er begangen hat, das Angesicht
    der Götter zu schauen. Der Verstorbene sagt:

Gruß dir, du Größter Gott, Herr der Vollständigen Wahrheit!
Ich bin zu dir gekommen, mein Herr,
ich bin geholt worden, um deine Vollkommenheit zu schauen.

Ich kenne dich und ich kenne deinen Namen, ich kenne die Namen dieser 42 Götter,
die mit dir sind in dieser Hallt der Vollständigen Wahrheit,
die von denen leben, die zum Bösen gehören, und sich von ihrem Blut nähren
an jenem Tag, an dem Rechenschaft abgelegt wird vor Wennefer (Osiris).

“Der, dessen beide Augen seine Töchter sind, Herr der Vollständigen Wahrheit” ist sein Name.
Ich bin zu dir gekommen, ich habe dir das Recht gebracht und habe dir das Unrecht vertrieben.

Ich habe kein Unrecht gegen Menschen begangen, und ich habe keine Tiere mißhandelt.
Ich habe nichts “Krummes” an Stelle von Recht getan. Ich kenne nicht, was es nicht gibt,
und ich habe nichts Böses getan.

Ich habe nicht am Beginn jedes Tages die vorgeschriebenen Arbeitsleistungen erhöht,
mein Name gelangte nicht vor den “Leiter der Barke” (Sonnengott?).
Ich habe keinen Gott beleidigt. Ich habe kein Waisenkind an seinem Eigentum geschädigt.
Ich habe nicht getan, was die Götter verabscheuen.
Ich habe keinen Diener bei seinem Vorgesetzten verleumdet.

Ich habe nicht Schmerz zugefügt und niemanden hungern lassen,
ich habe keine Tränen verursacht. Ich habe nicht getötet,
und ich habe auch nicht zu töten befohlen; niemandem habe ich ein Leid angetan.

Ich habe die Opferspeisen in den Tempeln nicht vermindert und die Götterbrote nicht angetastet;
ich habe die Opferkuchen der Verklärten (Toten) nicht fortgenommen.
Ich habe nicht geschlechtlich verkehrt
und keine Unzucht getrieben an der reinen Stätte meines Stadtgottes.

Ich habe am Hohlmaß nichts hinzugefügt und nichts vermindert,
ich habe das Flächenmaß (Arure) nicht geschmälert und am Ackerland nichts verändert.
Ich habe zu den Gewichten der Handwaage nichts hinzugefügt
und das Lot der Standwaage nicht verschoben.

Ich habe die Milch nicht vom Mund des Säuglings fortgenommen,
ich habe das Vieh nicht von seiner Weider verdrängt.
Ich habe keine Vögel aus dem Sumpfdickicht der Götter gefanten und keine Fische aus ihren Lagunen.
Ich habe das (Überschwemmungs)wasser nicht zurückgehalten in seiner Jahreszeit,
ich habe dem fließenden Wasser keinen Damm entgegengestellt,
und ich habe das Feuer nicht ausgelöscht, wenn es brennen sollte.

Ich habe keine Fleischopfer versäumt an den Tagen (des Festes),
ich bin nicht dem Gott(esbild) bei seiner Prozession in den Weg getreten.

Ich bin rein, ich bin rein, ich bin rein, ich bin rein!
Meine Reinheit ist die Reinheit jenes großen Benu-Vogels (Phönix), der in Herakleopolis ist,
denn ich bin ja jene Nase des Herrn des Lebensatems, der alle Leute am Leben erhält,
an jenem Tag, an dem das heilige Auge in Heliopolis gefüllt wird,
am letzten Tag des zweiten Monats der Peret-Jahreszeit vor dem Herrn dieses Landes (Jenseits).
Ich bin es, der das Füllen des heiligen Auges in Heliopolis gesehen hat.
Nichts Böses kann mir zustoßen in diesem Land, in dieser Halle der Vollständigen Wahrheit,
denn ich kenne die Namen dieser Götter, die in ihr sind.

Anruf an die 42 Totenrichter:

O Weitausschreitender, der aus Heliopolis hervorgeht: ich habe kein Unrecht getan.
O du, der die Flamme umarmt, der aus Alt-Kairo hervorgeht: ich habe nicht gestohlen.
O du mit dem Schnabel (Thot als Ibis), der aus Hermopolis hervorgeht: ich war nicht habgierig.
O Schattenverschlinger, der aus der Grube hervorgeht: ich habe mir nichts angeeignet.
O Schreckensgesicht, der aus Rasetjau hervorgeht: ich habe keinen Menschen umgebracht.
O Löwenpaar, das aus dem Himmel hervorgeht: ich habe das Hohlmaß nicht verletzt.
O du , dessen Augen Messer sind, der aus Letopolis hervorgeht: ich habe nichts “Krummes” getan.
O Brennender, der umgedreht hervorgeht: ich habe mir keinen Tempelbesitz angeeignet.
O Knochenzerbrecher, der aus Herakleopolis hervorgeht: ich habe keine Lüge gesagt.
O Flammenreicher, der aus Memphis hervorgeht: ich habe keine Nahrung gestohlen.
O Grubenbewohner, der aus dem Westen hervorgeht: ich habe kein Geschrei gemacht.
O Weißzahn (Krokodil), der aus dem Fajum hervorgeht: ich bin nicht aggressiv gewesen.
O Blutfresser, der aus der Schlachtstätte hervorgeht: ich habe kein Gottesvieh getötet.
O Eingeweidefresser, der aus dem Dreißiger-Gerichtshof hervorgeht: ich habe keinen Kornwucher begangen.
O Herr der Wahrheit, der aus dem Ort der Vollständigen Wahrheit hervorgeht: ich habe die zugeteilten Rationen nicht veruntreut.
O Abgewendeter, der aus Bubastis hervorgeht: ich habe niemanden belauscht.
O Glänzender, der aus Heliopolis hervorgeht: ich habe nicht unüberlegt geredet.
O Üble Schlange, die aus Busiris hervorgeht: ich habe nur um meinen Besitz gestritten.
O Wamenti-Schlange, die aus der Schlachtstätte hervorgeht: ich habe nicht die Frau eines anderen Mannes beschlafen.
O du, der schaut, was er gebracht hat, der aus dem Tempel des Min hervorgeht: ich habe keine Unzucht getrieben.
O Höchster der Ältesten, der aus Imau hervorgeht: ich habe keinen Schrecken erregt.
O Umstürzender, der aus Xois hervorgeht: ich habe keinen Schaden gestiftet.
O du mit gewaltiger Stimme, der aus dem Heiligtum hervorgeht: ich bin nicht hitzig gewesen.
O Kind, das aus dem Heka-anedj-Gau hervorgeht: ich bin nicht taub gegen gerechte Rede gewesen.
O du mit verkündender Stimme, der aus Wensi gervorgeht: ich habe keinen Streit entfacht.
O Basti, der aus der Schetit hervorgeht: ich habe nicht (einem anderen) zugeblinzelt.
O Hintersichschauer, der aus der verschlossenen Grube hervorgeht: ich habe nicht gleichgeschlechtlich verkehrt.
O Heißfuß, der aus der Dämmerung hervorgeht: ich bin nicht nachlässig gewesen.
O Verhüllter, der aus der Verhüllung hervorgeht: ich habe micht nicht gestritten.
O du, der sein Opfer holt, der aus Sais hervorgeht: ich bin nicht gewalttätig gewesen.
O Vielgesichtiger, der aus Nedjefet hervorgeht: ich bin nicht jähzornig gewesen.
O Ankläger, der aus Utjenet hervorgeht: ich habe nicht meine Natur überschritten und einen Gott angegriffen.
O Herr des Doppelhornes, der aus Siut hervorgeht: ich habe nicht viel Gerede gemacht wegen einer Sache.
O Nefertem, der aus Memphis hervorgeht: ein Vergehen von mir gibt es nicht, nichts Schlechtes habe ich getan.
O du, der nichts übrigläßt, der aus Busiris hervorgeht: ich habe den König nicht beleidigt.
O du, der nach seinem Willen tut, der aus Antaiopolis hervorgeht: ich habe mich nicht auf Wasser gestützt.
O Ihi, der aus dem Urozean hervorgeht: ich habe nicht meine Stimme erhoben.
O du, der den Leuten befiehlt, der aus seinem Schrein hervorgeht: ich habe keinen Gott beleidigt.
O Neheb-Nefret, der aus seinem Tempel hervorgeht: ich habe mich nicht aufgeblasen.
O Nehebkau, der aus seiner Stadt hervorgeht: ich habe mich nicht über meinen Stand erhoben.
O hochgereckte Schlange, die aus ihrer Kapelle hervorgeht: meine Ansprüche gingen nicht über das hinaus, was ich besaß.
O du, dessen Arm herbeiholt, der aus dem Totenreich hervorgeht: ich habe meinem Stadtgott keine Schande bereitet.

Schlußrede:

Zu sprechen vom Verstorbenen: Seid gegrüßt, ihr Götter!
Ich kenne euch, ich kenne eure Namen.
Ich soll nicht eurem Gemetzel verfallen, und ihr sollt das Schlechte an mir nicht aufsteigen lassen
zu diesem Gott, in dessen Gefolge ihr seid.

Meine Verfehlung wird nicht vor euch kommen,
und ihr sollt Recht über mich sprechen vor dem Allherrn.
Denn ich habe im Diesseits das Recht geübt. ich habe keinen Gott beleidigt,
und kein Vergehen von mir gelangte vor den regierenden König.
Seid gegrüßt, o Götter, die ihr in dieser Halle der Vollständigen Wahrheit seid,
in deren Leib keine Lüge ist, sondern die von Wahrheit leben in Heliopolis,
die sich von Wahrheit nähren vor Horus in seiner Scheibe (Sonnengott).
Rettet mich doch vor dem Baba, der von den Eingeweiden der Ältesten lebt,
an jedem Tag der “Großen Prüfung” (Totengericht)!
Seht, ich bin zu euch gekommen - keine Sünde, keine Schuld ist an mir,
nichts Böses ist an mir, kein Zeugnis liegt gegen mich vor,
und niemand gibt es, gegen den ich mich vergangen hätte.
Denn ich lebe von Wahrheit, ich nähre mich von Wahrheit.

Ich habe getan, was die Menschen raten und womit die Gäötter zufrieden sind.
Ich habe den Gott zufriedengestellt mit dem, was er möchte:
Brot gab ich dem Hungrigen, Wasser dem Dürstenden, Kleider dem Nackten,
ein Fährboot dem Schifflosen.
Gottesopfer habe ich den Göttern, Totenopfer den Verklärten (seligen Toten) dargebracht.

So rettet mich doch, schützt mich doch, macht keine Anzeige gegen mich beim Größten Gott.
Ich bin einer mit reinem Mund und reinen Händen, den alle willkommen heißen, die ihn sehen.
.......

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