Der Mythos als Denkform

nach einem Vortrag von Prof. Jan Assmann
an der Universität Mainz am 23. Januar 2002

Für die alten Ägypter waren die Mythen nicht abstrakte Erzählungen sondern bildeten die Grundlage ihrer Weltanschauung. Sie entstanden durch Naturbeobachtungen und fanden im Alltag ihre Rechtfertigung. Dazugehörige Rituale wurden durch kultisches und heilendes Handeln der Priester und Ärzte vollzogen.

Aus dem heliopolitanischen Mythos leiten sich die Herrschaftsansprüche der Pharaonen ab. Durch die Handlungsorientiertheit der Mythen gab es keine zusammenhängenden Erzählungen seitens der Ägypter, sondern diese begannen erst mit den antiken Historikern. Der Mythos bezieht sich auf die täglichen Handlungen und stellt den Idealzustand der pharaonischen Herrschaft dar.

Das Königtum wird von Osiris abgeleitet und dieser besitzt die Herrschaftsinsignien Krone, Krummstab und Wedel. Osiris ist nicht ein König der Götter und auch kein Schöpfergott sondern ein politischer Herrscher. Urbild jeden Königs ist Osiris, der irdische Herrschaft ausgeübt hatte, ehe er vergöttlicht wurde.

In der heliopolitanischen Kosmogonie kommt es zur Trennung von Himmel und Erde, da sich Re in den Himmel zurückzieht. Atum ist der Gott der Präexistenz, der sich aus sich selber schuf. Den Übergang zur Existenz stellt der Urhügel dar. Atum gebiert Schu und Tefnut und aus diesem Götterpaar gehen Geb und Nut hervor. Schu, der Luftgott trennt Geb, den Erdgott von Nut, der Himmlsgöttin. Die Herrschaftsansprüche leiten sich mit Geb als territoriale Herrschaft und mit Osiris als politische Herrschaft ab. Der Tod kommt erst mit dem Mord an Osiris durch Seth dazu. Durch die Auferstehung Osiris’ wird seine Ehre wiederhergestellt und dadurch tritt der staatliche Aspekt hervor. Eine “Resozialisierung” kommt durch Horus zustande. Seth wird bestraft und Welt ist wieder im Sinne der Ma’at und gilt als geheilt.

Horus trägt als liebender Sohn den Königstitel und versinnbildlicht die Konstruktion des ägyptischen Staates. Diese beruht auf dem toten Vater und dem liebenden Sohn. Horus gilt als Ka des Toten. Diese Auseinandersetzung mit dem Tod versinnbildlicht den Erbstreit um den Thron.

Die Regierung des Pharao entspricht dem Sonnenlauf-Mythos. In diesem Mythos reist die Barke Re’s tagsüber von Ost nach West und tritt nachts die Reise von West nach Ost in der Unterwelt an. Damit wird die Funktionalität des Kosmos widergespiegelt. Die Schöpfung an sich heißt auf altägyptisch “das erste Mal” und bedeutet jeden Morgen den Sonnenaufgang und somit jedes Mal eine Erneuerung. Es wird jedoch unterschieden zwischen dem “ersten Mal ohne Widerstand” d.h. ohne Kampf wird das “erste Mal” der Schöpfung vollzogen. Bei allen weiteren “ersten Malen” gilt die Schlange Apophis als Feind der Durchsetzung von Ma’at. Re muss sich gegen Apophis rechtfertigen um die Herrschaft aufrecht zu erhalten. Auch Osiris muss gegen Seth seine Herrschaft wieder zurückgewinnen. Insgesamt werden die Feinde Ägyptens mit Sonnenfeinden gleichgesetzt. Zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang steigt Re in die Unterwelt ab und teilt das Schicksal der Toten und vereinigt sich mit Osiris. Am nächsten Morgen steigt Re wieder verjüngt am Horizont auf. Die Sonne lebt somit vor, was sich die alten Ägypter wünschten. Der Sonnenlauf hält die pharaonische Herrschaft in Gang. Re hat den König auf Erden auf ewige Zeit eingesetzt. Der König opfert Re und setzt sich für die Aufrechterhaltung von Ma’at ein und vertreibt damit Isfet (Chaos). Er ist der Sohn des Vorgängers und auf Erden der Sohn des Sonnengottes, sein Ka geht auf seinen Nachfolger über. Die Pharaonen sind Söhne des Horus.

Somit ist Denkform des Sonnenmythos die Sinngewinnung des Alltags und schafft Bezug zum täglichen Handeln.

Zurück